Leseprobe aus «Quitt» in der Anthologie «MordsSchweiz»
Quitt
Meinen Entschluss, kriminell zu werden, nahm ich nicht auf die
leichte Schulter. Es war für mich ein äußerst ehrgeiziges Vorhaben,
und ich hegte anfangs auch Zweifel an meinem Talent. Denn ich
gehörte nie zu jenen Menschen, denen im Leben alles in den
Schoß fiel. Auch war ich mit einem eher geringen Selbstvertrauen ausgestattet. Dennoch hatte ich Wünsche, entwarf Luftschlösser,
stellte mir vor, was ich aus meinem Leben gern gemacht hätte.
Im beruflichen Bereich etwas Außergewöhnliches zu leisten hielt
ich für aussichtslos. Ich übe eine der unauffälligsten Tätigkeiten
aus, die es überhaupt gibt: Ich bin Sekretärin. Mein Chef – kein
hohes Tier – ist mit mir ganz zufrieden, ich habe meine Arbeit
im Griff, aber als »Perle« würde er mich wohl kaum bezeichnen. Besondere Begabungen sucht man bei mir vergeblich; ich bin eher unsportlich, manchmal ziemlich ungeschickt, meine Kochkünste
sind mittelmäßig, und meine Versuche, Topfpflanzen zu Wachstum
und Blüte zu bringen, blieben erfolglos. Ich bin mittelgroß, war bis
vor Kurzem ziemlich mollig, in mein stumpfbraunes Haar hatten
sich bereits graue Fäden gemischt, was ich eine Weile lang – ohne überzeugendes Ergebnis – mit einer selbst aufgelegten kastanien-farbenen 40 Tönung zu überdecken versuchte. Ich hatte, frei heraus gesagt, nie den Ehrgeiz, mich hübsch zu machen, denn wenn ich
mich im Spiegel betrachtete, schien mir, dass es ohnehin vergebliche Liebesmüh wäre.
Vielleicht neigte ich jedoch dazu, meine Träume besonders ehrgeizig auszugestalten, denn – so fantasierte ich zuweilen – wenn mir irgendwann etwas Großartiges, Einmaliges gelingen würde, dann
wäre mein ganzes Leben gleichsam auf ein höheres Niveau gehoben, herausgelöst aus dem Klima der Mittelmäßigkeit und Erfolglosigkeit,
in dem es sich seit jeher bewegt hatte. Mag sein, dass es im Grunde genommen diese entschlossene Sehnsucht war, die mich dazu antrieb, ein Verbrechen zu begehen.
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