Meinen Namen kennen Sie aus den
Medien. Cassandra Buchstab. Ist
natürlich ein Pseudonym – aber gut,
nicht wahr, für eine Autorin? Dass ich
Kriminalromane schreibe, wissen Sie
ebenfalls. Sie interessieren sich für meine
Geschichte, sagen Sie. Aber die ist doch
längst bekannt – stand in allen Zeitungen.
Gut, Sie haben Recht, alles ist natürlich
nicht herausgekommen. Vor einigen
Jahren fragte mich an einer Lesung eine
Frau aus dem Publikum, ob ich nach all
meinen Erfahrungen, mir Verbrechen
auszudenken, imstande wäre, den per-
fekten Mord zu begehen. Ich verneinte
bescheiden.
Es ist ja auch nicht der Ehrgeiz eines
Krimiautors, Morde zu entwerfen, die
nicht aufgeklärt werden können. Im
Gegenteil, ich will meine Bösewichte
vom Detektiv überführen und sie der
Justiz aushändigen lassen. Ich könnte
also eher mit Ja antworten, wenn man
mich fragen würde, ob ich in der Lage
wäre, ein stümperhaftes Verbrechen zu
begehen. Technisch sicher, aber natürlich
würde mir das Gewissen dazwischen-
funken, wie wohl bei den meisten
Menschen.
Glücklicherweise – andernfalls gäbe es keine Kriminalromane.
An sich friedliche Menschen, zu denen
ich mich zähle, können am ehesten in
zwei Situationen gewalttätig werden und
jemanden umbringen: entweder im
Affekt, wenn sie dermassen von Gefühlen
wie Wut oder Demütigung überwältigt
werden, dass ihnen alle Sicherungen
durchbrennen; oder dann in einer Not-
situation, wenn ihre Gegenwehr zu heftig
ausfällt und zu einem sogenannten
Notwehrexzess wird. Dieser Notwehr-
exzess kann indessen je nach der Notlage
der Person auch entschuldbar sein.
– Aber genug der Theorie. Sie dient ja
nur dazu, mich meiner Story zu nähern.
Mir, Cassandra Buchstab, ist der perfekte
Mord geglückt – oder soll ich sagen:
passiert? Ich sehe, Sie runzeln die Stirn.
Schliesslich besuchen Sie mich ja im
Gefängnis. So perfekt ist es offensichtlich
nicht gelaufen, denken Sie.
Warten Sie’s ab.
Wie es dazu kam? Tja, ich war seit gut
fünf Jahren im Krimibusiness, hatte drei
Detektivromane und eine Reihe von
Short Stories verfasst. Ich hatte eine solide
Fangemeinde um mich geschart, ein paar
Tausend Menschen, die meine Bücher
kauften, mir freundliche Mails schrieben.
Immer fanden sich auch zuverlässig um
die fünfzig Leute an meinen Lesungen
ein. Jährlich kauften etwa viertausend
Menschen eines meiner Bücher.
Viertausend Menschen – das ist eine
hübsche Menge, wenn man sie sich auf
einem Platz vorstellt. Und doch, es waren
einfach zu wenige, um mich zu ernähren.
Das Geld, das auf mein Konto tröpfelte,
reichte hinten und vorne nicht. Keine
Ahnung, warum ich nicht so bekannt
war wie Stieg Larsson und die ganze
nordeuropäische Truppe – aber es war
eben so. Ich brauchte einen zusätzlichen
Brotjob. Am besten einen, den ich in
Randstunden ausüben konnte, damit ich
tagsüber Zeit zum Schreiben hatte. Auch
wollte ich möglichst wenig denken
müssen, damit mein Kopf frisch blieb
fürs Erfinden, Skizzieren und Schreiben.
Ich fand eine passende Arbeit: Ich wurde
Putzfrau, schöner gesagt, Reinigungs-
kraft bei einem Reinigungsinstitut, also
einer Putzfirma. Meine Aufgabe war es,
frühmorgens und nach Feierabend Büros
zu putzen. Der Lohn war akzeptabel,
verglichen mit meinen Einkünften als
Autorin. Ich machte die Arbeit nicht
ungern, und doch – vielleicht bin ich ein
wenig snobistisch – hielt ich meinen
Zweitberuf vor meinen Bekannten und
Fans streng geheim.
Alles ging gut – bis ich eines Abends wie
jeden Montag und Donnerstag das Büro
eines Sachbearbeiters einer Firma putzte.
Ich hatte soeben den Papierkorb geleert
und fuhr mit einem feuchten Lappen
über den Besprechungstisch, auf dem ein
Rosenquarzstein lag, den ich ein wenig
polierte. Da kam ein junger Mann
hereingestürzt.
„Guten Abend, ich habe bloss was
vergessen“, rief er und eilte zum Pult.
Aber dann blieb er abrupt stehen.
„Hey, Sie kenne ich doch, Sie sind, ja, Sie
sind Cassandra Buchstab. Ihr letztes
Buch hat mir ausgezeichnet gefallen!“
Ich murmelte irgendwas, und mir war
höchst unbehaglich zumute. Ein Fan, du
meine Güte, und traf mich beim Putzen
an. In einer türkisfarbenen Schürze.
Er merkte nichts: „Ich wette, Sie sind hier
am Recherchieren für ihren nächsten
Krimi“, sagte er fröhlich, „wird die
Putzfrau das Opfer oder die Mörderin?
Warten Sie“, er zückte sein Smartphone,
„ich muss unbedingt ein Selfie von uns
beiden schiessen. Das geht dann auto-
matisch auf Instagram.“ Flugs stand das
Jüngelchen neben mir, legte mir den
einen Arm um die Schulter und streckte
den anderen aus, das verdammte
Gerätchen in der Hand.
Instagram, dröhnte es in meinem Kopf.
Katastrophe. Sichtbar für die ganze
Welt: Cassandra Buchstab bei ihrem
Putzjob. Ich wäre erledigt. Für immer.
Out. Im Off. Das musste ich verhindern.
Um jeden Preis.
Ich handelte automatisch. Griff mir den
grapefruitgrossen, frisch abgestaubten
Rosenquarzstein vom Sitzungstisch und
haute ihn dem Mann auf den Kopf. Seine
letzte Bewegung in diesem Leben war
ein leichter Druck seines Daumens auf
das Display. Damit machte er ein Foto,
das – so sah ich es später – den rosa
glänzenden Stein in meiner herab-
sausenden Hand zwei Millimeter über
seinem Schädel zeigte, eine Zehntel-
sekunde vor seinem Tod.
Tja, bei einer solchen Beweislage macht
Abstreiten keinen Sinn. Ich gab alles zu.
Erläuterte zwei ernsten Polizisten
eindringlich meine Notsituation, meinen
Gefühlsaufruhr, meine Existenzangst,
meine Absicht, einzig das Foto zu
verhindern, sonst gar nichts. Später
erklärte ich das Gleiche unter Tränen
nochmals einer freundlich-distanzierten
Rechtsanwältin und wiederholte es
schliesslich mit hängendem Kopf vor
einem Gremium von drei Richtern, die
mir schweigend zuhörten und mich die
ganze Zeit skeptisch musterten.
Aber es wirkte. Schliesslich habe ich eine
gewisse Begabung, Geschichten zu
erzählen.
Ich wurde zu sechs Jahren verurteilt.
Zwei habe ich schon abgesessen, ein
Drittel wird mir wegen guter Führung
geschenkt werden.
So weit so gut, höre ich Sie denken, aber:
Wann kommt jetzt endlich das mit dem
perfekten Mord? Hat die Frau noch
einen weiteren armen Kerl um die Ecke
gebracht? Einen, der kein Smartphone
zur Hand hatte, um sein Ermordet-
werden zu dokumentieren?
Na, so begreifen Sie doch: Jener für
meinen jungen Fan leider tödliche
Zwischenfall war das Beste, was mir
passieren konnte. Eine mordende Krimi-
autorin ist ein gefundenes Fressen für
die Medien. Alle berichteten über mich,
das haben Sie ja mitbekommen:
Die Lokalpresse schrieb ausführlich und
in Fortsetzungen über den Fall, eine
lokale TV-Station interviewte mich, eine
Frauenzeitschrift brachte ein einfühl-
sames Porträt, die Gerichtsberichterstatter
rapportierten über den Prozess. Alle
kennen mich nun – Sie ja auch –, und die
Verkaufszahlen meiner Bücher sind
förmlich explodiert!
Am besten läuft derzeit das neuste Buch
„Rätselmord im Frauenknast“, das ich
letztes Jahr verfasste. So vermeide ich es,
mich im Gefängnis in der Wäscherei
abplagen zu müssen. Das Geld strömt
nur so auf mein Konto. Vor Kurzem hat
ein norwegischer Verlag um die Über-
setzungsrechte angefragt. Ich bin durch
den Mord eine bekannte Krimiautorin
geworden, dazu vermögend – und in
zwei Jahren wieder frei:
Ist das etwa nicht perfekt?